Abfluß verstopft

Sonor plärrt der Radiowecker, Musik, Werbung, Nachrichten, Melodien, Stimmen, Informationen versuchen mich aus dem Halbschlaf zu reißen. Ich frage mich, warum ich beim Kauf der Dosengerichte einer bestimmten Marke eine Versicherung abschließen soll bis ich über einem Flugzeugabsturz, einem militärischen Grenzkonflikt und der Besorgnis der Automobilindustrie über stagnierende Exportgeschäfte langsam einen Wachzustand erreiche, der mich zumindest den Wetterbericht bewußt wahrnehmen läßt: ‚Und die weiteren Aussichten: Fortdauern des naßkalten Schauerwetters‘. Wie auch anders, ich denke an die unangenehme Nässe, die letzte Nacht schnell durch Schuhe, Jacke und Hose an meine Haut drang, sich dort festsetzte und meinen Körper wie meine Laune gegen Null abkühlte.

Kalte Füße und Hände, immer noch fröstelt und erstaunt es mich, wie unmittelbar sich empfundene Kälte in einem Menschen festsetzen kann und eine Nacht, einen Schlaf und nicht selten noch viel länger bleibt. Unausgeschlafen, zerschlagen hasse ich dieses kalte Liegen, stehe auf und gehe drei mechanische Schritte widersinniger Hoffnung, der Blick aus dem Fenster, Wetterbericht bestätigt.

Zitternd erreiche ich das Bad, stelle die Dusche an, warmes Wasser dauert mindestens drei Minuten, Tendenz steigend. Der verkalkte Boiler, dieser klobige Dämon der frühen Fünfziger glotzt mich an mit seinem roten Auge und erinnert allmorgendlich an die Erzählungen von Eltern und Großeltern, die Entbehrungen der Nachkriegszeit, die mahnenden Zeigefinger der Wirtschaftswundergeneration, ihre nie in sich verstandene, geschweige denn bezahlte Schuld, die sich zweimonatlich in meiner Stromrechnung zu potenzieren scheint.

Zeit genug eine Kanne Kaffee aufzusetzen, 2500 Reichsmark soll ein Pfund gegen Kriegsende auf dem Schwarzmarkt gekostet haben. Ich frage mich, ob mir Kaffee wichtig wäre, wenn ich ihn nicht hätte, frage mich, ob ich ihn vermissen würde, frage mich nach meiner Entbehrungsfähigkeit, die ich nicht unter Beweis werde stellen können, da ja die von mir entbehrten, damit ich nicht entbehren muß und die trotzdem immer wieder von ihren Entbehrungen reden, ich muß wohl dankbar sein, eine andere Chance bleibt mir nicht, selbst wenn ich entbehren wollte, ich glaube, sie ließen mich nicht, denn ich habe es doch so gut.

‚Ja, damals‘ klingt in meinen Gedanken nach, ist tief in sie gepflanzt. Auch ich werde älter, erreiche und verliere Ziele, auch ich sammle Ballast, vielleicht Schuld, werde mein ‚Ja, damals‘ suchen und finden, um diesen Touch vermeintlicher oder tatsächlicher Weisheit in der Konversation zwischen Generationen wirkungsvoll zu nutzen. In den mit alten Freunden ausgetauschten Jugenderinnerungen ertappe ich mich manchmal, ‚Ja, damals‘, als wollte ich etwas überdecken, eine Einzigartigkeit erhalten und beispielhaft vorhalten, die es in Wirklichkeit doch nie gab. ‚Ja, damals‘, die unbewußte oder vorsätzliche Verschleierung des Verlustes selbstloser Ideale, ‚werdet ihr erst einmal so alt wie wir‘, das wird immer ziehen, genauso wie ‚Ja, damals‘.

Langsam pumpt die Kaffeemaschine heißes Wasser auf das Kaffeepulver im Kaffeefilter, Kaffeegeruch verbreitet sich. Die Dusche dürfte soweit sein, öffne die Türe und sehe auf eine randvolle Duschwanne, Abfluß verstopft.